Freiberufliche Übersetzer arbeiten üblicherweise alleine vor sich hin. Wenn man nicht gerade ein Zimmer in einer Bürogemeinschaft gemietet hat, was aus Kostengründen nur die wenigsten tun, bleibt der berufliche Austausch mit anderen Menschen ziemlich überschaubar. So segensreich Facebook-Gruppen oder sonstige Computernetzwerke in dieser Hinsicht sind — sie können die Lücke nur zum Teil stopfen. Also sucht die vereinsamte Übersetzerin nach Fortbildungen.
Finden kann man diese zum Beispiel in Lenzburg, einem Städtchen, das ungefähr eine halbe Autostunde von Zürich entfernt liegt und wo seit nunmehr 20 Jahren Seminare für literarische Übersetzer stattfinden. Mittlerweile werden dabei sogar vier parallel laufende Workshops angeboten: für die Ausgangssprachen Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch. In Übersetzerseminaren für literarische Übersetzer dominiert sonst meist die englische Sprache, spezielle Angebote für Übersetzer aus dem Spanischen sind selten. Also entschied ich mich bei der Anmeldung zum diesjährigen Seminar für den Workshop Spanisch-Deutsch bei Christian Hansen.
Anders als die Seminare am Europäischen Übersetzerkolloquium Straelen und am Literarischen Colloquium Berlin, die komplett von Deutschen Übersetzerfonds finanziert werden und für die man erstens Berufserfahrung vorweisen und sich zweitens mit einem Auszug aus einer eigenen Übersetzung bewerben muss, stehen die Seminare in Lenzburg jedem offen, der bereit ist, die Seminargebühr und die Kosten für Anfahrt und Übernachtung zu bezahlen. Daraus ergibt sich ein ganz anderes, breiteres Spektrum der Teilnehmer, was seinen eigenen Reiz hat. Nicht wenige Teilnehmer waren außerdem zum wiederholten Mal da.
Wunderschön ist der Rahmen für das Seminar. Das Müllerhaus ist ein 250 Jahre altes ehemaliges Bürgerhaus, das von einem Schweizer Baumwollfabrikanten erbaut wurde. Mittlerweile steht es unter Denkmalschutz und wird hauptsächlich für kulturelle Zwecke genutzt. Außerdem kann man es mieten, zum Beispiel für Trauungen. Nach einer kurzen Begrüßung durch Pedro Zimmermann, der diese Seminare ins Leben gerufen hat und seither organisiert, verteilten sich die vier Workshops auf vier Räume im Müllerhaus; wir, der spanische Trupp, hatten das Blümlizimmer, die Franzosen das gelbe Zimmer gegenüber von uns, die Italiener und Engländer waren im Obergeschoss untergebracht.
Auf eine kurze Vorstellungsrunde folgten die ersten Lockerungsübungen: kurze Textpassagen aus verschiedenen Werken, die wir erst kurz vor Seminarbeginn erhalten und auch nicht vorbereitet hatten; am nächsten Tag kam dann der längere Text an die Reihe, den wir vorab übersetzt hatten. Motto des Workshops war “Freihändig übersetzen — über den Umgang mit fragwürdigen Originalen”. Es ging also um Fragen wie: Was macht man, wenn der Autor seine schriftstellerischen Mittel nicht sicher beherrscht, wenn es immer wieder “knirscht”, Sätze im Original nicht richtig funktionieren, Bilder schief sind oder der Text sogar handfeste Fehler enthält? Oder sind es womöglich gar keine Fehler, sondern bewusst eingesetzte Stilmittel? Alles Fragen, vor denen man in der Praxis ständig steht. Manches, was zu Hause am Schreibtisch völlig klar scheint, ist in der großen Runde auf einmal gar nicht mehr so eindeutig. Kann eine Silhouette um Mitternacht rosa sein? Und wenn ja: rosa, rosig oder doch rötlich? Kann ein Obdachloser, der auf einer Bank schläft, in Zeitungen eingehüllt oder eingewickelt sein? Und so weiter. Außerdem: Was tun mit Realien — also Fakten, die den Lesern des Originals bekannt sind, denen der Übersetzung dagegen eher nicht? Als roter Faden zog sich durch die lebhaften Diskussionen immer wieder die Frage, wie treu man dem Text bleiben und wo man sich dagegen vom Original entfernen muss.
Anders als im Arbeitsalltag, bei dem man immer einen Abgabetermin vor Augen hat, ist im Seminar viel Zeit — da vergeht schon mal eine Stunde mit der Diskussion über einen Satz. Purer Luxus! Und eine gute Gelegenheit, die eigene Arbeitsweise mit allem, was man sich im Lauf der Zeit angewöhnt hat, gründlich infrage zu stellen.
Als zusätzlichen Programmpunkt gab es am Freitag eine spannende Veranstaltung mit den beiden Übersetzerinnen Irma Wehrli und Yla Margrit von Dach und zum Abschluss am Sonntag eine Lesung mit dem Schriftsteller David Bosc und seiner Übersetzerin Gabriele Zehnder — ebenfalls interessant, auch wenn ich mit meinem Französisch da doch sehr an meine Grenzen kam.
Danke an Christian Hansen, der uns permanent gefordert hat, und natürlich an Pedro Zimmermann und sein Team, deren perfekte Organisation das Ganze erst richtig rund machte! Ich will auf jeden Fall wiederkommen. Nur schade, dass kaum Zeit blieb, das Städtchen Lenzburg zu erkunden und das (vom verregneten Freitag abgesehen) zauberhafte Frühlingswetter zu genießen.